Charly Hébdo: cartoons on the dead refugee boy

Ein Aufschrei geht durch die sozialen Medien: Charly Hébdo hat Karikaturen veröffentlicht, die sich der Kultur der schnellen Likes und Dislikes verschließen. Entsprechend reagieren die meisten Nutzer und verkennen die Aussagen als rassistisch, islamfeindlich oder einfach nur als zynisch. Welch ein Irrtum! Gute Kunst, egal welcher Gattung sie angehört, bezieht immer den Betrachter, Leser oder Zuschauer mit ein. Kunst ist dann besonders respektvoll gegenüber dem Zuschauer, wenn sie ihn als kompetent und verantwortungsvoll einschätzt, wenn sie von ihm erwartet, dass er reflektierend unter die Oberfläche schaut, sich selbst also als Teil des Kunstwerks betrachtet.
Hierzu gibt es viele Beispiele in der Literatur. Dazu gehört z.B. Bert Brecht, der sich in seinen Gedichten der Technik des Syllogismus bedient, wobei der letzte Schritt zum Verständnis nicht plakativ vorgegeben ist sondern vom Leser selbst gemacht werden muss. Hierzu ein einfaches Beispiel:

 

Der Schneider von Ulm
(Ulm 1592)

„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach’!“
Und er stieg mit so ‘nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.
Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.

„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“
„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Auf den ersten Blick scheint der Bischof recht behalten zu haben, und um die Aussage, dass nie ein Mensch fliegen werde zu unterstützen, soll diese Wahrheit durch die Glocken in die Welt hinausgetragen werden. Da das Gedicht bewusst die Ereignisse in eine längst vergangene Zeit zurückdatiert, ist der Schritt, den der Leser zur Erkenntnis der Aussage machen muss, nicht allzu schwer. Der Leser, der möglicherweise gerade von einem Amerikaflug zurückgekehrt ist, wird feststellen, dass die pompös vorgetragene Aussage des Bischofs am Ende der zweiten Strophe falsch ist, dass der Mensch sehr wohl fliegen kann und dass er sich inzwischen die dazu notwendigen technischen Mittel geschaffen hat.
Die letztendlich wichtigste Aussage des Gedichtes ist aber nicht die Banalität der Tatsache, dass der Mensch doch fliegen kann, sondern sie ist die implizite Aufforderung, hinter pompös und scheinbar unwiderruflich vorgetragene Aussagen zu schauen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Genau diese Technik verfolgt Charly Hébdo mit seinen Karikaturen:

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Da Charly Hébdo in Bezug auf seine Leser nicht von einem Menschenbild ausgeht, das diesen zum bloßen Konsumenten und Befolger absoluter Wahrheiten macht, ist die intellektuelle Mitarbeit der Rezipienten quasi in der Karikatur enthalten.

Hier zunächst einmal die beiden scheinbar milderen Versionen der Bearbeitung des Themas „Alan, der kleine ertrunkene syrische Junge“.
Dieser kleine Junge, der mit anderen Mitgliedern seiner Familie bei der Überfahrt nach Griechenland ertrunken ist, löste in ganz Europa eine Welle des Mitleids und des Mitgefühls aus und es schien, als könnte dieses Mitgefühl die Menschen in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Flüchtlingen irritieren oder sogar verändern.
Diese Ablehnung basiert hauptsächlich auf zwei Faktoren: Angst vor kultureller Überfremdung, wozu auch religiös begründete Vorurteile gehören, und Angst davor, durch die Flüchtlinge wirtschaftliche Einbußen oder überhaupt den Verlust des Wohlstands zu erleiden.
Dies wird durch diese beiden Karikaturen dargestellt:

Die linke Karikatur zeigt die Arroganz einer sogenannten christlich-abendländischen Kultur, die aber im Bild des selbstzufrieden über das Wasser gehenden Jesus Christus gleichzeitig den Verrat des Prinzips der Nächstenliebe darstellt. Er könnte den kleinen Jungen aus dem Wasser ziehen, benutzt seine Hände aber nur, um in einer schauspielerischen, selbstzufriedenen Pose zu glänzen.
Also: Diese Karikatur ist wohl offensichtlich eine Kritik westlicher Selbstzufriedenheit und kultureller Arroganz. Sie richtet sich gegen alle, die zwar vielleicht gerührt waren vom Bild des toten Jungen im Spülsaum des Meeres, die aber ihre Grenzen gegen diejenigen verschließen, die in Krieg und höchster Not Schutz und Hilfe bei uns finden.
Ich sehe in diesem Jesus zum Beispiel Polen, zum Beispiel Ungarn etc., Länder, die sich auf ihre tiefe christliche Tradition berufen, in denen aber beim Gedanken an schutzsuchende Menschen Pogromstimmung aufkommt.

Die zweite Karikatur stellt den Überfluss unserer Gesellschaften dar. Es hätte uns nicht einmal etwas gekostet, den kleinen Jungen aufzunehmen und durchzufüttern. Das Schild bezieht sich auf die gängie Werbemasche auf Verpackungen zu drucken, dass eine bestimmte Menge des Inhalts kostenlos sei….50% gratuite.
Wir sind aber eben nicht bereit, diesen Überfluss zu teilen. Wir sind nicht bereit, zum Beispiel den Menschen, die sich täglich in ihrer Verzweiflung unter Lebensgefahr in nicht seetauglichen Gummibooten oder alten Schaluppen übers Meer wagen, sichere Fluchtwege zu bieten, wie sie von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen schon lange gefordert werden. Nicht die Karikatur ist zynisch, sondern die Haltung, diesen kleinen Jungen zu bedauern und doch keinen Finger dafür zu rühren, den Asylsuchenden zu helfen.

Nun hat Charly Hébdo noch eine weitere Karikatur veröffentlicht , die sich auf die Ereignisse an Silvester in verschiedenen deutschen Städten bezieht: Diese Karikatur stellt eine Beziehung zwischen dem toten Alan und den „ausländischen“ Dieben und Sexualstraftätern von Köln etc. her.

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Diese Ereignisse und die Berichterstattung darüber haben dazu geführt, dass zum Beispiel von einer „Zeitenwende“ die Rede war und ist. Die Zustimmung zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik ist dramatisch gesunken, sie liegt inzwischen weit unter 50%. Integrationskurse werden gefordert, selbst Asylhelfer lassen sich von der Hysterie anstecken und wollen „ihren“ Asylsuchenden ins Gewissen reden, wodurch sie diese zu potentiellen Tätern machen.
Was hat das mit dem toten Alan zu tun?

Wenn man die Reaktionen auf die Bilder des toten Jungen mit den Reaktionen auf die Ereignisse in Köln etc. vergleicht, dann fällt vor allem auf, dass beide Ereignisse in erster Linie starke Gefühle auslösen. War es damals Mitleid, so ist es jetzt Hass und Ablehnung. Charly Hébdo trägt dieser Tatsache schon dadurch Rechnung, dass das Gesicht des toten Alan im Wasser liegt, dass man es also nicht sieht. Auf dem Bild über die Jagdszenen in Köln sieht man aber das Gesicht und man stellt fest, dass es karikaturistisch überzeichnet ist, d.h. es sind lustvoll oder irrsinnig aufgerissene Augen und die Nase ist als Schweineschnauze dargestellt. Die Hände fordern von den Opfern alles, körperlichen und materiellen Besitz…
Aber welche Absicht steckt dahinter, dass diese Figuren in einen Zusammenhang mit dem toten Flüchtlingsjungen gestellt werden?
Ist es nicht schon zynisch, den toten Jungen in Bezug zu einer Karikatur seiner fiktionalen Zukunft zu setzten?
Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen: Der tote Alan hat über die Medien eine Welle des Mitgefühls ausgelöst , die für alle Menschen, die auch nur oberflächlich an den Ereignissen der letzten Jahre teilgenommen haben, eigentlich schon viel früher hätte ausgelöst werden müssen, denn seit Monaten, ja sogar Jahren werden wir mit Bildern überschwemmt, die zigtausende von ertrunkenen Menschen zeigen. Die kleinen Kinder, die mit den überfüllten Flüchtlingsbooten im Mittelmeer ertrunken sind, sind alle nicht weniger wert als Alan. Warum haben diese Bilder so wenig Wirkung gezeigt? Warum brauchen wir immer einen Medienhype um Dinge wahrzunehmen und warum laufen wir damit bereitwillig Gefahr, in die falsche Richtung gespült zu werden?
Warum haben die toten Frauen, Kinder und Männer, von denen wir seit Jahren wissen, nicht dazu geführt, dass wir sichere Fluchtwege schaffen? Warum haben wir es hingenommen, dass „Mare Nostrum“ ersetzt wurde durch eine ineffiziente Frontex-Mission?
Die Karikatur von Charly Hébdo zeigt die Irrationalität dieser Wellen des Mitgefühls und der Ablehnung, die durch die Medien gefördert wird und von manchen Politikern bedient wird.
Im Zuge der Ermittlungen in Köln und anderswo zeigt sich immer mehr, dass das Problem der Übergriffe klar analysiert werden kann. Ein sachlicher Umgang mit der Problematik wäre wünschenswert. Doch innerhalb kurzer Zeit hat der Umgang mit diesen Verbrechen in der Silvesternacht die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, dramatisch verändert.
So wie der kleine Alan für Mitgefühl gesorgt hat, so sorgen jetzt die jungen nordafrikanischen Männer und ihr Treiben in der Silvesternacht für Hass und Ablehnung. Genau das will Charly Hébdo zeigen. Und indem die Karikatur beides miteinander verbindet, zeigt sie die Absurdität dieser Reaktionen auf.
Also: Charly Hébdo karikiert nicht „den armen toten Jungen“ und auch nicht den „muslimischen Sexualtäter“, sondern unseren Umgang mit diesen Ereignissen.